Language Policy & Planning des Dolomitenladinischen

Forschungsreise zu einer Sprachminderheit nach Norditalien

von Tim Walter | 6. Dezember 2019

„Was machst du hier eigentlich?“

Es ist der 15. April 2019, etwa 14 Uhr. Es regnet, schneit, graupelt. Erst nacheinander, dann gleichzeitig. Ich befinde mich im Auto auf etwa 1.500 Höhenmetern. Hinter einer Kurve taucht der mächtige Latemar auf. Seine Felsen überragen das Sichtfeld. Doch noch atemberaubender ist das Schlachtfeld zwischen uns: Über mehrere Kilometer liegen tausende umgeknickte Nadelbäume an den Hängen (https://www.altoadigeinnovazione.it/migliaia-di-alberi-abbattuti-le-immagini-della-devastazione-a-carezza/). Ihre Kronen zeigen hangabwärts auf den kleinen, selbst unter grauem Himmel kristallblauen Lago di Carezza.

Plötzlich steht auf einem einsamen Parkplatz auch noch eine Gruppe chinesischer Touristen mit gelben Regenschirmen – die ersten Menschen, seit etwa 45 Minuten Autofahrt durchs Nichts. Nicht mehr sicher, ob noch in der Realität oder bereits in einem David-Lynch-Film, fahre ich rechts ran und frage mich: „Was machst du hier eigentlich?“

Wie die Jungfrau zum Kinde

Gute Frage. Fangen wir von vorne an, nämlich im Februar 2019. Im Seminar „Dokumentationslinguistik“ stellt Kursleiterin Dr. Ilona Schulze die Abschlussaufgabe vor: Erstellen Sie einen fiktiven Forschungsplan zum Thema Sprachkontaktforschung. Zur Auswahl steht auch Ladinisch, eine romanische Sprache, die man in einigen Tälern in den norditalienischen Dolomiten spricht. Zwei davon in Südtirol. Wenigstens eine Kontaktsprache (Deutsch) kann ich also. Und ein wenig Italienisch hatte ich in der Schule ja auch.

St. Ulrich in Gröden (ladinisch Urtijëi, italienisch Ortisei), eine der drei Grödner Gemeinden, in denen neben Deutsch und Italienisch auch Ladinisch Amtssprache ist.

Aber Ladinisch lässt mich auch aus einem anderen Grund aufhorchen. Ich interessiere mich für Language Policy & Planning (LPP), ein Ansatz der sich mit Maßnahmen befasst, die Verbreitung und Prestige einer Sprache betreffen. Unter den europäischen Minderheitensprachen taucht Ladinisch immer wieder als Sonderfall auf: Seine geringen Sprecherzahlen (ca. 30.000) sind seit mehreren Jahren stabil – der europäische (und globale) Trend ist für kleine Sprachen rückläufig.

Da haben wir also eine erste mögliche Forschungsfrage: Welche LPP-Maßnahmen machen Ladinisch zum Erfolgsmodell? Ich finde Gefallen an der Idee, mehr über die Language Policies in den ladinischen Tälern zu erfahren. Gleichzeitig erfahre ich von der Fördermöglichkeit des Studienbüros. Mit der Unterstützung von Herrn Bokelmann (Studienbüro) und Frau Dr. Schulze schustere ich im Eilverfahren einen Förderantrag zusammen – und stehe auf einmal mit einer Zusage da.

Fragen und ein Notizbuch

Bevor ich die knapp vier Stunden nach Südtirol fahre, gilt es Methodisches zu klären. Ich wälze Feldforschungs-Ratgeber, quatsche und berate mich mit DozentInnen aus Linguistik, Anthropologie und Soziologie, besuche alle möglichen Vorträge und vor allem: mache unablässig Notizen. Das DIN-A5-Notizbuch wird zum Begleiter, auf den ich seitdem nicht mehr verzichten kann.

Geplant sind ausführliche Experteninterviews mit language professionals, d.h. mit Leuten, die beruflich mit dem Ladinischen zu tun haben. Dazu gehören etwa LehrerInnen, Mitarbeiter von Bildungs- und Kulturinstituten oder Abgeordnete. Durch die Förderung durch das Studienbüro haben meine Interview-Anfragen einen offizielleren Anstrich. Der hilft zweifellos dabei, bereits vor der Abreise fünf Termine festzumachen. Durch die Experteninterviews möchte ich erfahren, welche Language Policies bestehen und wie sie umgesetzt werden. Doch um diese Maßnahmen verstehen zu können, muss ich die Lage vor Ort kennen. 

 

Welche Sprache spricht man auf der Straße? Welche in einer Bäckerei, einem Cafe? Was verändert sich, wenn ein Nicht-Ladiner dazustößt? Was für Radio hört man, welche Zeitungen liest man? Was bedeutet den Sprechern ihre eigene Sprache?

Warum es wichtig ist, vor Ort zu sein

Südtirol ist, wie es meine Betreuerin ausdrückte, „dasselbe in grün“. Soll heißen: Bis auf Berge und ein paar Konsonanten ändert sich auf den 250km dorthin nicht viel. Auch mit Interviews habe ich durch meine Arbeit neben dem Studium Erfahrung. Doch die Aufgabenstellung hier ist etwas gänzlich anderes.

Am ersten Tag spreche ich in einem der Täler ein paar ältere Herren in einem Café an. Versehentlich stoße ich eine Diskussion über den korrekten Gebrauch des Ladinischen an. Andere Besucher steigen in das Gespräch mit ein und ich habe ein erstes Gefühl von dem, was der Wissenschaftler language attitudes oder language ideologies nennen würde. Und natürlich bringt man mir einige Worte Gherdëina (die lokale Varietät) bei.

Solche Gespräche führe ich von da an fast täglich. Sie helfen ungemein bei den eigentlichen Interviews. Zum Beispiel, wenn man einen Unterstützer des Ladinischen Schriftstandard „Ladin Dolomitan“ auf Vorurteile über dieses Projekt ansprechen kann. Oder wenn man einer Pustertaler Café-Besitzerin dabei zuhört, wie sie mit ihren Kunden einen Mix aus Ladinisch und Italienisch spricht.

Immer wieder tauchen Themen auf, die man aus der Literatur nicht erahnen kann. Z.B. die Anekdote eines Konditors, bei dem sich eine Kundin beschwert, er habe „Alles Gute zum Geburtstag“ (auf Ladinisch) falsch auf die Torte geschrieben. Beide liegen richtig: Es gibt einfach etliche Schreibweisen, die oft sogar im selben Tal variieren.

(Erste) Erkenntnisse

Mit dieser Realität müssen die language professionals arbeiten. Wo ein deutscher Zeitungsleser Ressorts wie Politik, Sport, Kultur usw. erwarten würde, ist die Wochenzeitung „Usc di Ladins“ in fünf verschiedene Tal-Varietäten unterteilt. Als ich mit dem Chefredakteur spreche, bemerke ich ein ganzes Regal voller verschiedener Wörterbücher in den Talvarietäten hinter ihm. Verständlich, dass er einen Schrift-Standard befürworten würde.

Ähnliche Herausforderungen finden sich in der Schule. Das ladinische Schulamt und die Freie Universität Bozen organisieren die Ausbildung der Lehrkräfte und Erstellung von Lehrmaterial. Als anerkannte Sprachgruppe (neben Deutsch und Italienisch) erhalten die ladinischen Institutionen in Südtirol öffentliche Gelder, die sie eigenverantwortlich verwenden können. Im Fassatal (Autonomieregion Trento) müssen Lehrkräfte zwar ebenfalls in Ladinisch unterrichten können, doch gibt es hier keine so unabhängige Gestaltung des Bildungsapparates wie in Südtirol. (Die Situation für die ladinischen Täler in der Provinz Belluno sieht aufgrund fehlender Minderheitenrechte übrigens düsterer aus.)

Trotz der Verankerung des Ladinischen im Lehrplan erfordern die verschiedenen Varietäten zusätzlich große Eigeninitiative von den einzelnen Lehrkräften. Bi- (Fassatal) bzw. Tri- (Südtirol) bzw. Multilingualismus (plus Englisch als Prüfungssprache in den Oberstufen) verlangen manchmal gezielte Unterstützung einzelner Kinder. Die LehrerInnen, mit denen ich sprechen konnte, setzten sich weit über den Unterricht hinaus für die Bildung der Kinder und das Ladinische ein – mit einer solchen Begeisterung, dass ich selbst wieder darüber nachdachte, Lehrer zu werden.

Die eigenen language ideologies

Ein wenig Disziplin erfordert die Vor- und Nachbereitung der Gespräche. Abends blättere ich durch mein Notizbuch und zerbreche mir den Kopf, was ich beim morgigen Interview fragen könnte. Das Anstrengende sind jedoch nicht die Fragen. Vielmehr habe ich das Gefühl, mir würde ein tiefverwurzelter Backenzahn gezogen. Nämlich meine eigenen language ideologies.

Aufgewachsen im tiefsten Monolingualismus Nordbayerns passen die Erfahrungen vor Ort nämlich so überhaupt nicht zu meinen unbewussten Vorannahmen, was ‚Sprache‘ ist. Klar, da gibt es etliche Papers und Vorträge, die ich über Sprachkontakt und Sprache & Identität gelesen bzw. gehört habe. Doch was das für die Sprecher bedeutet, erfährt man erst, wenn man mit ihnen spricht. Vor Ort. Dort wo sie leben und sprechen.

Insofern sind die Momente des „Was machst du hier eigentlich?“ nichts Schlechtes. Ganz im Gegenteil: Sie sind ein Zeichen, dass sich etwas bewegt im Kopf; dass Wissen entsteht. An diesem 15. April am Lago di Carezza schnaufe ich also durch, steige wieder ins Auto und lasse die chinesische Touristengruppe mit ihren gelben Regenschirmen hinter mir. Das Fassatal kann nicht mehr weit sein.

Zum Stand der Arbeit

Derzeit verbringe ich ein ERASMUS-Semester in Trento, von wo aus ich weitere Interviews zum Ladinischen führe, und meine Masterarbeit schreibe.

Dank

Ein großer Dank gebührt dem Studienbüro der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der LMU, insbesondere Herrn Bokelmann, und Frau Dr. Ilona Schulze für die Unterstützung und Betreuung.

Links und Literatur

Unten finden sich Links zu Ladinischen Medien und Instituten. Weiterhin finden sich auf Netz13 zwei Präsentationen, die ich auf der 65. und 66. Ausgabe der Studentischen Tagung Sprachwissenschaften (StuTS) in Köln und München gehalten habe. Sie enthalten diverse Literatur-Angaben für Interessierte sowie meine Kontaktdaten. Zu Fragen und zum Austausch stehe ich gerne bereit.

Präsentation zur 65. StuTS (Köln, Mai 2019): „Erfolgsmodell Ladinisch?“
Präsentation zur 66. StuTS (München, November 2019): „Instrumentalization of Linguistic Research“

Die Wochenzeitung „La Usc di Ladins“ („Stimme der Ladiner“): https://www.lausc.it
RaiLadinia, ladinisches Fernsehen und Radio bei RaiSüdtirol: http://www.raibz.rai.it/la/index.php
Radio Gherdëina Dolomites aus Gröden (Südtirol): http://www.radiogardena.it
Istitut Ladin Micura de Rü mit Sitz in San Martin de Tor im Gadertal (Val Badia): https://www.micura.it/it/
Istitut Cultural Ladin „Majon di Fascegn“ mit Sitz in Sèn Jan di Fassa (Trentino): https://www.istladin.net/it/home
Union Generela di Ladins dla Dolomites (UGLD): http://www.uniongenerela.it/de/
Atlant linguistich dl ladin dolomitich (ALD); ladinischer Sprachatlas, in der Verantwortung des Salzburger Romanisten Prof. Dr. Hans Goebl: http://ald2.sbg.ac.at